eventim DE
Dr. Winters Kolumne

Dr. Winters Kolumne

Dr. Winters Kolumne

Des Wahnsinns fette Beute


Liebe Freunde,
in diesen Zeiten, die nun einmal sind, wie sie sind, und das sind sie ja nun wirklich, erscheint es geradezu folgerichtig, dass sich meine nervenärztliche Praxis eines noch nie da gewesenen Zuspruches erfreut. Die Leute rennen mir die Bude ein, umgangssprachlich formuliert! Ich habe jetzt jeden Tag in der Woche geöffnet, und danach noch zwei Tage mehr.
Aber der Patientenstrom reißt nicht ab. Alle haben mittlerweile eine Macke, alle! Sie zucken, sie zwinkern, sie reißen Grimassen. Normal ist keiner mehr. Die Menschenmassen überfluten mich. Sie stauen sich im Wartezimmer, sie stauen sich im Treppenhaus, sie stauen sich am Straßenrand. Verrückte über Verrückte. Manchmal kommt auch mehrmals ein und dieselbe Person, die sich beim ersten Besuch für sich selber, beim zweiten Besuch für jemand anderen hält. Zuerst kommt sie als Herr Müller, dann als Frau Schneider, zuletzt als beide. Manchmal verwechseln sie das auch. "Ich bin doch die zwei anderen!", sagen sie. Es ist schwierig. Sie nennen mir ihre Namen, die ich sofort wieder vergesse. Sie sagen, was ihnen fehlt. Es ist mir egal. Jeder hat etwas anderes. Manche schnappen mit ihrer Unterlippe nach Insekten, andere lachen unmotiviert. Ich verschreibe große Mengen Beruhigungsmittel, verabreiche Narkotika an alle Bedürftigen, und jede Menge Placebos an mich selbst.
Ruhe breitet sich aus. Ich arbeite und arbeite. Zu Patienten, die nicht krank sind, sage ich: "Sie sind nicht krank". Sie glauben mir nicht. "Sie sind ein Lügner!", rufen sie. "Gut", antworte ich, "dann sind sie eben krank". "Was habe ich?", fragen sie. Ich setze Lachgas ein. Die Patienten kommen weinend und verlassen lachend meine Praxis. Die Nachbarn stehen auf ihren Balkons und klatschen. Anderen hilft auch kein Lachgas. "Kaum sitze ich zehn Minuten auf meiner Gartenbank", flüstern sie, "verlassen mich meine Kräfte, und ich muss nach oben, um mich auf mein Sofa zu setzen!"
Das Flüstern macht mich wahnsinnig. Ich sage: "Sie sind irrsinnig!" Sie halten sich ihre Hand vor ihren geöffneten Mund. "Irrsinnig?", fragen sie. "Ja", antworte ich, "und hören sie um Himmels Willen auf zu flüstern!" "Sie haben ja keine Ahnung!", flüstern sie. "Kommen sie mir nicht so!", sage ich. Ein Mann nähert sich mir mit schlenkernden Armen. "Ich schlenkere mit meinen Armen für den Weltfrieden", sagt er. Andere streichen sich über ihr Knie, um das Klima zu retten. "Noch ist es nicht zu spät!", sagen sie, "ich könnte auch gegen den Treibhauseffekt mit beiden Beinen in nur ein Hosenbein fahren!" "Nicht jetzt", sage ich. "Später könnte es zu spät sein!", antworten sie.
"Tja", sage ich, "tja, tja, tja!" Zwei Frauen essen meinen Rezeptblock. "Gibt es keinen Nachtisch?", fragen sie. Ich füttere sie mit Beipackzetteln. "Danke", antworten sie, "damit haben sie uns sehr geholfen!" Später umarmen sie meinen Pharmareferenten. "Ohne sie wäre mein Leben sinnlos!", sagen sie. "Das ist es auch mit mir", antwortet er. Widerlicher Nihilist. Ich greife mir an den Kopf. Er sitzt nicht mehr so besonders fest. "Was haben sie?", fragt mein Pharmareferent. "Morbus Kopfus", sage ich. "Wer nicht, wer nicht!", sagt er, und kurz darauf: "Na, ich gehe dann mal wieder". Aber er bleibt stehen, und trommelt mit seinen Fingern am Türrahmen. "Das ist nicht hilfreich!", sage ich, "gehen sie!" Es beeindruckt ihn nicht.
Ein Patient klagt über Halluzinationen. Er sieht noch immer Klaus Kleber im "Heute Journal", obwohl der beim ZDF doch aufgehört hat. "Wann haben sie diese Symptome zum ersten Mal bemerkt?", frage ich ihn. "Nein!", sagt er. "Was ist mit Gundula Gause?", frage ich weiter. "Nein!", "Wie alt sind sie?", frage ich. Und er sagt: "Nein". Ich kann fragen, was ich will, immer sagt er nur: "Nein, nein, nein". "So kommen wir nicht weiter!", sage ich. Seine Frau fühlt sich im falschen Körper. "Mein richtiger Körper sollte mehr Schmuck haben", sagt sie, "echten Schmuck, der auch was kostet, und eine Tasche von Gucci." Ich ringe mit den Händen. "Na, ist doch wahr!", sagt sie. "Nein!", sagt ihr Mann. Er lacht völlig unmotiviert. "Was ist denn so lustig?", frage ich ihn. "Ich will auch eine Brosche!", sagt er. Ich schüttle verständnislos den Kopf. Der Mann hört auf zu lachen. "Früher war ich doch absolut normal!", beklagt er sich. "Das muss aber schon sehr lange her sein!", sage ich. Und dabei bemerke ich, dass dieses "früher" tatsächlich schon sehr lange her ist, sehr, sehr lange sogar. Ich sage es ja, die Zeiten sind, wie sie sind. Hoffentlich wird das bald wieder besser. Mein Vorrat an Placebos geht zur Neige.

Euer Doktor Freud Fromm Winter


Bild: Torsten Reineck