eventim DE
Dr. Winters Kolumne

Dr. Winters Kolumne

Dr. Winters Kolumne

School's Out


Liebe Freunde,
immer, wenn es Herbst wird, muss ich an meinen Schulweg denken. Das liegt daran, dass ich zum ersten Mal im Herbst in die Schule gegangen bin. Tatsächlich bin ich gleich nach dem Schulanfang jeden Tag diesen Schulweg entlang gegangen, und kann mich bis heute noch sehr gut an alle Einzelheiten dieses Schulweges erinnern. An die Gehwegplatten und an die Bordsteinkanten und an das Kopfsteinpflaster und all so was.
Aber auch an die gelben Blätter, die von den Bäumen gefallen sind, an den blauen, wolken-losen Himmel, und an die Jungen, die den gleichen Weg wie ich gegangen sind und mir meine Mütze geklaut und sich gegenseitig zugeworfen haben. Selbstverständlich auch daran, wie ich von einem der Jungen zum nächsten gelaufen bin, um mir die Mütze zurückzuholen, und auch daran, dass ich sie nie wieder bekommen habe. Außerdem erinnere ich mich voller Wehmut an die Rentner in den Grünanlagen, die aus reiner Langeweile Parkbänke umgekippt haben, und mit Gießkannen aus Blech aufeinander losgegangen sind.
Ist es da ein Wunder, dass ich, immer, wenn ich daran zurückdenke, ganz sentimental werde? Wie alle Eltern hatten auch meine Eltern das allergrößte Interesse an meinem schulischen Vorankommen. "Michael (damals hieß ich Michael)", erkundigte sich mein Vater eines Tages, "wie heißen eigentlich die anderen Jungen in deiner Klasse?" "Die meisten von ihnen heißen Michael", gab ich wahrheitsgemäß zurück. "Und wie heißen die, die nicht Michael heißen?", fragte mein Vater weiter. "Die heißen auch Michael", sagte ich. "Und dein Lehrer?", bohrte mein Vater weiter. "Meinst du Herrn Michael?", fragte ich. "Was ist nur mit den Menschen los!", beklagte sich mein Vater, "gibt es denn niemanden in deiner Klasse, der nicht Michael heißt?" "Doch", antwortete ich, "das Mädchen, das neben mir sitzt, heißt Vera". "Vera", murmelte mein Vater, "wenigstens das. Aber man macht sich keine Vorstellung, in welch einer desaströsen Welt wir leben!"
Ein anderes Mal stellte mir mein Vater die Frage, was wir im Unterricht eigentlich lernen würden. "Was habt ihr heute gelernt?", fragte er. "Den Unterschied zwischen Attribut und Subjekt", antwortete ich. "Zum Beispiel?", fragte mein Vater. "Der vollbärtige Vollbärtige", sagte ich, "oder die sanftmütige Sanftmütige". "Was noch?", erkundigte sich mein Vater. "Der intellektuelle Intellektuelle", sagte ich. "Ein Intellektueller?", brauste mein Vater auf, "was soll das denn sein? Das Wort habe ich ja noch nie gehört!" Dann sah er für einen Augenblick von seiner Bierdeckelsammlung auf und blickte mich eindringlich an.
"Trotzdem, Bildung ist alles", sagte er gedanken-schwer, "es ist von unschätzbarem Nutzen, wenn man nicht, wie ich, zum Herausdrehen einer Glühbirne einen Elektriker bemühen muss, oder, wie deine Mutter, beim Fensterputzen jedes Mal in die Tiefe stürzt." "Beim letzten Mal habe ich mich aber noch eine gute Stunde an der Gardine festkrallen können", korrigierte ihn meine Mutter. "Mag sein, mag sein", konstatierte mein Vater, "aber der Junge soll es einmal besser haben als wir!".
Ende der ersten Klasse begann es meinen Vater zu interessieren, in welchem Beruf ich später einmal arbeiten wollte. "Was willst du denn eigentlich einmal werden?", fragte er. "Avon-Berater", teilte ich ihm mit, "ich will Avon-Berater werden." "Avon-Berater?", mein Vater rollte mit den Augen, "Ist das dein Ernst? Was wollen denn die anderen Jungen in deiner Klasse einmal werden?" "Die meisten wollen Avon-Berater werden", sagte ich. "Und die, die nicht Avon-Berater werden wollen?", fragte mein Vater. "Die wollen auch Avon-Berater werden", erklärte ich ihm. "Ja, gibt es denn so etwas!", brauste mein Vater auf, und ich stand da, und tastete auf meinem Kopf nach meiner Mütze, die natürlich nicht da war, weil die anderen Jungen sie mir auf dem Schulweg heruntergerissen hatten.
"Was ist denn mit den Mädchen?", begann mein Vater von neuem, "was wollen denn die Mädchen in deiner Klasse einmal werden?" "Vera will irgendwas mit Lurchen machen", antwortete ich wahrheitsgemäß. "Mit Lurchen?", wiederholte mein Vater, "Wäre das nicht auch etwas für dich?" "Nee", sagte ich, "ich mache doch keinen Mädchenberuf!" Ich habe dann tatsächlich nichts mit Lurchen gemacht. Aber ich habe Vera geheiratet, die immer "Du Lurch!" zu mir gesagt hat. In die Schule würde ich heute nicht mehr gehen. Weil sich die Schulwege grundlegend geändert haben. Dort, wo sich früher die Rentner gekloppt haben, werden vollkommen harmlose Helikoptereltern von wahnsinnig gewordenen Mährobotern angegriffen. Das ist nicht mehr schön. Dann lieber gleich was mit Lurchen machen!
In diesem Sinne verbleibe ich für heute, euer

Doktor Bodelschwingh Montessori Winter


Bild: Torsten Reineck