Dr. Winters Kolumne
Das große Erschrecken
Liebe Freunde,
vor einigen Jahren habe ich eine Zeit lang in einer Geisterbahn gearbeitet. Meine Tätigkeit bestand darin, in der Kurve mit den vielen Spinnweben die Leute zu erschrecken. Allerdings habe ich es dort nicht lange ausgehalten, weil ich mich immer vor den Leuten, die ich erschrecken sollte, selber erschrocken habe. Aufs Barbarischste erschrocken muss ich hinzufügen. Es war wirklich schlimm, ein stundenlanges Dauererschrecken. In der Geisterbahn sehen nämlich alle zum Fürchten aus. Auch diejenigen, die dafür Eintritt bezahlen, in einem kleinen Wagen um die Ecke zu brausen, und mit weit aufgerissenen Augen irre Schreie von sich zu geben.
Dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, in einer Geisterbahn zu arbeiten, habe ich meinem Mathematiklehrer zu verdanken, der mir schon frühzeitig prophezeite; "Du wirst in der Geisterbahn enden. Als der Mann, der in der Kurve mit den vielen Spinnweben die Leute erschreckst. Wenn überhaupt. Mit deinen geistigen Fähigkeiten kannst du froh sein, wenn du überhaupt eine Arbeit findest!" Vermutlich spielte er mit dieser Bemerkung auf den Umstand an, dass mir in der zehnten Klasse der Unterschied zwischen Zahlen und Buchstaben noch immer nicht klar war. Ich konnte mit beiden nichts anfangen, und hielt das auch nicht für wichtig. Nach der Schulzeit bin ich dem Ratschlag meines Mathematiklehrers gefolgt und habe mich bei der Geisterbahn um einen Job beworben.
Der Besitzer der Geisterbahn ist mir, im Gegensatz zu meinem Mathematiklehrer, sehr wohlwollend entgegengekommen und hat mich sofort eingestellt. "Na, das sieht doch wunderbar aus!", rief er mir zu, "Ich habe mich total erschrocken, als du eben durch die Tür gekommen bist, und sogar Nosferatu, mein Hund, er gehört zu der im Allgemeinen als furchtlos bekannten Spezies der Löwentöter, hat den Schwanz eingekniffen und zu winseln begonnen! Aber jetzt kannst du die Maske einmal abnehmen!" "Welche Maske?", fragte ich. "Na, die mit der fliehenden Stirn, den tief in den Höhlen liegenden Augen und der weit nach vorn strebenden oberen Zahnreihe", antwortete der Mann, aber dann verstand er meine Frage, und sagte: "Also pass auf, du stellst dich da in die Ecke mit den vielen Spinnweben, und immer, wenn jemand kommt, erschrickst du ihn!"
Aber was soll ich sagen? Die Arbeit überforderte mich. Ich erschrak über jeden einzelnen Besucher. Alle sahen fürchterlich aus. Selbst die hübschesten Mädchen mutierten in der Geisterbahn zu Monstern. Am meisten habe ich mich ja erschrocken, als ich meinen Mathelehrer erschreckt habe. Er hat mich natürlich sofort erkannt. "Du hast es ja weit gebracht!", hat er gerufen, "habe ich es dir nicht gesagt?" "Würden sie vielleicht so freundlich sein, sich von mir erschrecken zu lassen?", fragte ich. Aber mein Mathematiklehrer hat abgelehnt. "Vor jemandem, der nicht bis zwei zählen kann, erschrecke ich nicht!" Da habe ich mich um eine andere Stelle beworben.
Leider gab es auf dem Rummelplatz nur noch schwere körperliche Arbeit zu vergeben, und die Männer, die eine wirklich schwere körperliche Arbeit verrichteten, kamen aus Polen. Sie zerbissen Hufeisen und verbogen Eisenstangen. Oder sie schubsten die Kahnschaukel an. Wie Vaclav und Pjotr. Wer stark war, kam aus Polen. Aus Polen und aus Tschechien. Allerdings waren es viel weniger Tschechen als Polen, und dann gab es noch einige Polen, die aus Tschechien kamen, tschechische Polen sozusagen, aber polnische Tschechen waren eher selten, genauso selten wie dänische Finnen oder schwedische Norweger. Ich vermute ja, dass dänische Finnen und schwedische Norweger auch weniger auf Rummelplätzen, sondern hauptsächlich auf Schiffen arbeiten. Als Walfänger unter japanischer Flagge. Einmal bin ich einem finnischen Dänen begegnet, der mir vom Walfang erzählt hat. "Obwohl so ein Wal von beachtlicher Größe ist", erklärte er, "muss er im Ozean erst einmal aufgespürt werden. Das ist bei diesen windigen, durchs Wasser schießenden Fleischbergen keine einfache Angelegenheit!" Aber dies nur nebenbei.
Meine Erfahrung mit der Geisterbahn fand damit ihr Ende, dass mir der Besitzer der Geisterbahn eine Stelle als Lama im Streichelzoo angeboten hat, aber die Vorstellung, während meiner Arbeit von meinem Mathematiklehrer gestreichelt zu werden, hat mich dazu bewogen, diese wohlmeinende Offerte abzulehnen. Geht euren Mathematiklehrern aus dem Weg! Mit diesem Ratschlag verabschiede ich mich für heute und verbleibe bis zum nächsten Mal
Euer Doktor Adam Ries Winter