eventim DE
Dr. Winters Kolumne

Dr. Winters Kolumne

Dr. Winters Kolumne

Allergischer Schock oder Die Mädchen vom Mars


Liebe Freunde,
seit dem Tag, an dem der FDJ-Sekretär unserer Schule mir mein Rolling-Stones-Poster aus dem Ranzen geklaut hat, leide ich an Allergien. Man sollte es nicht für möglich halten, aber es ist die reine Wahrheit! Am Anfang bin ich nur gegen FDJ-Sekretäre allergisch gewesen, später gegen alles Mögliche. Gegen Hühner, Buchstabensuppe, kalte Glühbirnen. Absolut verrücktes Zeug. Ich musste es nicht einmal essen oder anfassen, es genügte, es nur zu sehen. Schon ging es los. Ich verfärbte mich, oder ich nahm die Form einer Banane an. Es war grässlich. Alles konnte mir zum Verhängnis werden.
Meine Allergien isolierten mich. Nichts von dem, was die anderen taten, durfte ich tun. Weil das Risiko zu groß war, dabei von einer Allergie heimgesucht zu werden.
Am schlimmsten waren die Sommerferien. Die Sommerferien waren für mich die langweiligsten Wochen des Jahres. Es passierte einfach nichts. Sechs Wochen lang ging die Sonne auf und unter. Dazwischen lagen sechzehn Stunden, in denen ich irgendwo herumsaß und mich hin und wieder am Arm kratzte. Mehr nicht.
Meine Mitschüler verreisten während der Ferien. Wenn sie zurückkamen, erzählten sie von Koserow, Sotschi und Bukarest. Meine Familie verreiste nie. Wegen meiner Allergien. Weil niemand wusste, ob ich unterwegs nicht eine schreckliche allergische Reaktion auf Tomatensuppe entwickeln würde und plötzlich ganz anders auszusehen begann. Wie ein großes, grünes Insekt oder irgendetwas aus der Designabteilung eines durchgeknallten Werkzeugmaschinenherstellers.
Einmal, als ich mich an einem Sommertag in der Nähe des Botanischen Gartens aufgehalten habe, hat mich eine obskur schillernde Mücke in den Daumen gestochen. Danach ist meine Hand auf die Größe einer Kehrschaufel angeschwollen. So etwas passierte mir ständig. Wenn ich etwas zu mir nahm, was ich nicht vertrug, verformte sich irgendeines meiner Körperteile zu einem monströsen Etwas, das in den meisten Fällen wie ein Haushaltgerät aussah. Dann musste ich sofort zum Arzt. Von ihm wurde ich zu einem Spezialisten überwiesen. Der Spezialist verabreichte mir eine Spritze, auf deren Inhalt ich grundsätzlich allergisch reagierte. "Was soll ich denn jetzt machen?", fragte der Spezialist meine Eltern. "Sie stellen aber auch Fragen!", polterte mein Vater. "Was würden sie uns denn raten?", fragte meine Mutter. "Das Beste wird sein, sie sehen ihn sich ein paar Tage lang nicht an", empfahl der Spezialist, woraufhin mein Vater sich fürchterlich aufregte, und meiner Mutter über einen längeren Zeitraum hinweg der Mund offen stehen blieb. Auf so etwas hatten meine Eltern im Urlaub keine Lust. Ich verstand sie. Aber langweilig war es trotzdem.
Meinen größten Allergieschock bekam ich allerdings nach den Sommerferien der siebenten Klasse. Ich stand auf dem Schulhof, dort, wo ich in den Pausen immer stand, an meinem Stammplatz, einem Klettergerüst, das sich ein paar Meter vor dem schwarzen Eisengitter entlang der Hausmeisterwohnung befand. Der Himmel war septemberblau, der Schulhof frisch gefegt. Ich fühlte mich stabil und ausgeglichen, als plötzlich eine Gruppe fremder Wesen auf mich zukam. "He, wer bist denn du?", fragten sie. Sie waren zu fünft. Wenn ich zu fünft gewesen wäre, hätte ich ihnen auch so eine Frage gestellt. Aber ich war allein und sagte nichts. Ich starrte sie nur an. Sie sahen so exotisch aus mit ihren langen Haaren, lackierten Fingernägeln und bunten Kleidern. Und dann dufteten sie so wunderbar, und sie bewegten sich, als würden sie den Boden nicht berühren. Wie Wesen aus einer anderen Welt. Ich stand vor dem blauen Eisengitter und habe mich umgedreht und meinen Blick auf etwas Vertrautes gerichtet wegen meiner Allergien. Ich fühlte, wie mein Fuß anzuschwellen begann. Schon bald würde ich wie ein Staubsauger aussehen, oder wie ein überdimensionierter Gasherd.
Ich versuchte, mich ihnen irgendwie mitzuteilen. Durch Augenrollen und merkwürdig schwingende Armbewegungen. Da sind sie kichernd weggelaufen, und mein Allergieschock verformte mich zu einem Gewürzschrank. Später erfuhr ich, dass es sich bei den fremden Wesen um Mädchen gehandelt hat. Aber ich glaubte es nicht, und wenn, dann waren sie vom Mars.
Das Stones-Poster ist übrigens das von der Welttournee neunzehnhunderteinundsiebzig gewesen, mit dem Rolls Royce und diesem Ozeandampfer im Hintergrund. Wenn ich nur daran denke, bekomme ich überall rote Flecken. Aber das nur der Vollständigkeit halber. Hütet euch vor allem, was Allergien auslöst! Besonders vor FDJ-Sekretären und Mädchen vom Mars!

Mit diesem wohlmeinenden Rat verabschiede ich mich für heute und verbleibe
Euer Doktor Brian Keith Winter


Bild: Torsten Reineck