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Dr. Winters Kolumne

Dr. Winters Kolumne

Ganz in Familie


Liebe Freunde,
ich muss zugeben, dass ich enorme Schwierigkeiten habe, der aktuellen Weltlage irgendwelche lustigen Aspekte abzugewinnen. Ich suche und suche und finde einfach nichts, was komisch wäre, oder witzig, oder wenigstens ein wenig heiter. Es gibt nichts, alles ist nur absurd. Absurd und irrsinnig und extrem traurig. Schlimm, oder?
Das Beste wird sein, ich schweife für meine Kolumne etwas in der Vergangenheit herum, also in der Zeit, als die Welt noch voller lustiger Begebenheiten gewesen ist, voller skurriler Situationen und origineller Typen. Bei Familienfeiern beispielsweise. Zum Jahresende häuften sich unsere Besuche bei Familienfeiern. Meistens gingen wir zu Verwandten, die Geburtstag hatten. Alle unsere Verwandten waren im Spätherbst geboren worden, und ihr erster Eindruck der Welt hatte aus schlechtem Wetter, Wochenbettdepressionen und den dunklen Bärten der Ärzte einer Geburtsklinik bestanden. Das merkte man ihnen zeitlebens an. Das Leben verstörte sie. Tante Gisela besuchten wir immer als erste. Sie war eine sehr freundliche Person mit einem runden, lächelnden Gesicht, und niemand, wirklich niemand verstand, warum ihr Mann sie sitzen gelassen hatte. Außer ihrem Mann mochte sie einfach jeder. Manchmal blickte sie in den Himmel und fragte: "Was riecht denn hier so stark?" "Wahrscheinlich der Fisch da hinten auf dem Teller", antwortete ihre Schwester. "Und warum verströmt er einen so intensiven Geruch?", fragte Tante Gisela noch einmal. "Weil er schon eine Woche dort liegt", informierte sie ihre Schwester. "Aha", sagte Gisela, "da weiß ich Bescheid." Giselas Schwester, Marion hatte ein Augenleiden, und sah fast nichts mehr. Wenn sie zu irgendeiner Tätigkeit aufgefordert wurde, vermochte sie dieser nur in den seltensten Fällen nachzukommen. "Wie soll ich das machen", sagte sie, "ich bin ja blind!"
Aber einmal, so erzählte sie, hatte der Paketbote am Gartentor geklingelt, und da habe sie ganz vergessen, dass sie blind sei, und wäre die Treppe hinunter und den Kiesweg entlang durch den Garten gelaufen, um das Paket in Empfang zu nehmen. Sogar quittiert habe sie es. Danach habe sie mehrere Tage lang den Kopf geschüttelt über so viel Dummheit. Seitdem halte sie sich aber konsequent daran, dass sie blind sei. "Dieses ewige hin und her nützt ja keinem etwas!", sagte sie, "Man muss schließlich wissen, was man will!"
Wenn wir bei Tante Gisela zu Besuch waren, trafen wir auch Onkel Jochen. Er lief immer mit leicht angewinkelten, nach vorn gestreckten Armen durch die Wohnung. Wie ein Sprinter oder ein Marathonläufer. Ich hatte keine Ahnung, warum. Aber er machte es. Onkel Jochen redete nur über Autos. Über Zweitakt - und Viertaktmotoren und über Scheibenbremsen und Lenkstangen und so. Er wäre gern Testfahrer geworden, und wenn seine Frau und er in ihrem Auto irgendwo hinfahren wollten, schrie sie schon "Stopp! Stopp!", noch bevor sie eingestiegen war.
Auf den Familienfeiern begegnete man Menschen, die es sonst nicht gab. Onkel Alwin beispielsweise, der die ganze Zeit auf seinen Brillenbügeln herumkaute, und der, wenn er nicht ganz bei der Sache war, auch andere Gegenstände, die er in seiner Umgebung fand, in den Mund nahm. Die Henkel einer Handtasche, oder einen Zweig aus einer Blumenvase, oder eine Gardinenstange, irgendwas. "Mit dir kann man sich nirgendwo sehen lassen!", beschwerte sich seine Frau. Aber Onkel Alwin hörte überhaupt nicht zu.
Einige Tanten, also Mechthild, Klara und Josepha, unterhielten sich den ganzen Abend über das Ableben ihrer Kanarienvögel. Einer war im Glühwein ertrunken, ein anderer war an einem Dauerlutscher festgeklebt. Der nächste hatte einen Tag lang still auf seiner Schaukel gesessen, so lange, bis jemand am Käfig gerüttelt hatte. Da war er heruntergefallen. Der Verschleiß an Kanarienvögeln in unserer Familie war katastrophal. Meine Tanten verbrauchten mehr Kanarienvögel als Lebensmittel. Ganze Schwärme. Die Familienbesuche endeten immer damit, dass große Mengen Magenbitter verabreicht wurden. Danach kehrte ein wunderbarer Friede in allen Gemütern ein. Wirklich. Alles wurde ruhig und friedlich. Vielleicht ist Magenbitter die Lösung. Wer weiß?

In diesem Sinne verbleibe ich bis zum nächsten Mal, Euer Doktor Sankt Martin Sankt Nikolaus Winter


Bild: Torsten Reineck