Unter den Picos de Europa im Norden Spaniens
Unbekanntes Kantabrien
Wenn die spanischen Seefahrer um 1500 aus Amerika zurückkehrten, erblickten sie als erstes die schneebedeckten Gipfel der Picos de Europa - hoch über den grünen Küsten von Kantabrien. Heute weiß die zweitkleinste spanische Region durch ihre landschaftliche Vielfalt zu begeistern.
Für die Iberer gehört Kantabrien - anders als die sonnenverbrannten Regionen Andalusien und Katalonien - zum grünen Spanien. Die Gipfel des Kantabrischen Gebirges erreichen Höhen über 2.600 Meter und sind bis in die Frühjahrsmonate hinein sogar schneebedeckt. Mit seinen schroffen Felsenspitzen gehört der Nationalpark Picos de Europa zu den beliebtesten Naturlandschaften der Halbinsel. Auf kleiner Fläche verzeichnet die Küstenkordillere zweihundert Zweitausender!
Die Unesco wies den bereits 1918 gegründeten Nationalpark im Jahr 2003 als Biosphärenreservat aus. Mario Gutiérrez begleitet uns auf abenteuerlichen Wegen. Nun, sie sind hier recht gut ausgebaut. Die Beschilderung lässt hingegen eher zu wünschen übrig. Mario verweist auf die raschen Wetterwechsel nahe der Biskaya. Seiner Auffassung nach würden Wegweiser den Touristen in falscher Sicherheit wiegen. Statt Schilder empfiehlt er also sich und seine Kollegen Bergführer.
In der Winterzeit lädt das Alto Campoo auch zu Hochgebirgsski ein. 28 Kilometer Pisten und 13 Lifte stehen dem Urlauber zur Verfügung. Die Bergstation der einzigen Seilbahn Fuente Dé wartet mit spektakulären Aussichten auf. Im Sommer laden Wanderwege zur Naturbeobachtung ein: Mit mehr oder minder Glück sind unterwegs Gämsen und Steinadler, aber auch Bären und Auerhähne zu entdecken. Die verkarsteten Gipfel sind nahezu vegetationsfrei, während die unteren Lagen durch dichte Rotbuchen- und Eichenwälder geprägt sind.
An der Seite eines Rangers pirsche ich mich in früher Morgenstunde an äsende Hirsche heran. Ein röhrender Artgenosse weist uns zwischendurch den Weg. Tausende der majestätischen Paarhufer besiedeln die Berge Kantabriens. Je größer der Hirsch, desto kräftiger ist sein Röhren und umso besser auch seine Chancen, einer Hirschkuh zu gefallen. Weniger Erfolg haben wir im Tal von Liébana mit der Suche nach Bären. Wir müssen uns am Ende mit einigen Köteln auf dem Weg zufrieden geben. Das Haus der Natur in Pesaguero widmet sich dem Leben der Bären, die hier bis in die 1970er Jahre gejagt wurden. Heute fürchten sich die Bauern und Bewohner vor ihnen weit weniger als vor den sich ausbreitenden Wölfe.
Wenig überraschend finden sich in dem schroffen Karstgebirge Höhlen, insgesamt 6.500 an der Zahl. Elf davon sind touristisch erschlossen und wahrlich spektakulär! El Soplao wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch Bergarbeiter der Mine La Florida entdeckt. Mit einer kleinen Bergwerksbahn erreicht der Besucher die teilweise barrierefreie Route. Die hängenden und stehenden Kalkspitzen bilden exzentrische Figuren. Gewaltige Galerien schimmern in verschiedensten Farben, die sich aufregend in den Höhlenseen widerspiegeln. Seit einigen Jahren finden in dem beeindruckenden Ambiente auch Konzerte statt.
Als erste Höhle wurde El Castillo im Jahr 1903 für die Neuzeit wiederentdeckt. Vor vielen Jahren lebten hier Neandertaler. Was sich bereits in der Erklärung spannend anhört, wird bei der Besichtigung wirklich umwerfend: Die Darstellungen von Händen, geometrischen Figuren oder Bisons sind alt, sogar sehr alt. Die frühesten figürlichen Abbildungen entstanden vor sage und schreibe 40.000 Jahren und gelten als die ersten Kunstwerke der Menschheit! Kein Wunder, dass die Unesco die Höhle im Jahr 2008 mit anderen paläolithischen Höhlenmalereien im Norden Spaniens zum Welterbe erklärte.
Sechs Mönche leben heute zurückgezogen im Kloster Santo Toribio de Liébana. Die Bauten in dem Gebirgstal gehen auf das zwölfte Jahrhundert zurück. Von Bedeutung ist die in einer Kapelle bewahrte Reliquie des Heiligen Kreuzes. Bei der Besichtigung weiß vor allem die gotische dreischiffige Klosterkirche zu beeindrucken.
Auf der Fahrt durch Kantabrien bestechen immer wieder die kleinen reizvollen Dörfer und Städte. Am Rande des Nationalparks Picos de Europa liegt am Zusammenfluss des Quiviesa mit dem Deva der Ort Topos. Seine mittelalterlichen Wohntürme, lauschigen Gassen, die krummen Brücken und prächtigen Adelspaläste verströmen lebendige Geschichte. Was Wunder, das Topos zur Vereinigung der schönsten spanischen Gemeinden gehört. Kleine Läden und Restaurants bieten regionale Spezialitäten an. Dazu gehören auch verschiedene Käse, süßer Wein und der Schnaps aus Trester. Lohnend ist ein Besuch zum Markttag am Montag. Der Hauptort des Liébana-Tals bietet sich zudem als wunderschöner Ausgangspunkt für Touren in den Nationalpark an.
Weniger aufregend ist eigentlich die Hauptstadt der Region Kantabrien, Santander. Das Finanzzentrum, auch in Deutschland bekannt durch seine gleichnamige Bank, brannte 1941 weitgehend ab. Neben den neun Sandstränden sind das auf einer Halbinsel gelegene Königsschloss La Magdalena und das 2017 eröffnete Kunstzentrum Centro Botin des Stararchitekten Renzo Piano erwähnenswert.
Apropos Strände: Die Küste Kantabriens besticht nicht nur aus der Ferne mit ihren weißen Bergspitzen. Die wilde Biskaya formte in Stürmen und mit hohen Wellen eine aufregende Küstenlinie. Nicht nur für Geologen ist der "Parque Geológico Costa Quebrada" ein faszinierendes Ausflugsziel! Costa Quebrada bedeutet nicht zufällig "gebrochene Küste". Auf wenigen hundert Metern Entfernung sind verschiedene Stadien des Kampfes zwischen dem Felsengebirge und dem Ozean zu erlaufen. Die Bilder der wasserumtosten Felsenmonolithe verbreiten sich via Whatsapp in alle Winkel der Erde. Die Felsküste ist seit 40 Millionen Jahren in einem ständigen Wandel begriffen, was angesichts neun Meter hoher Wellen im Herbst nur wenig verwundert. So kehre ich denn in dem Bewusstsein heim, mit meinen Fotografien doch nur eine Momentaufnahme der wilden Natur eingefangen zu haben...